Der Triumph des „gemeinen Mannes“ über den verbildeten Klerus – frühreformatorische Gelehrtenkritik im Karsthans-Dialog

Wiebke Voigt: Kat. Nr. 50–53

1520, drei Jahre nach Veröffentlichung der legendären 95 Thesen Martin Luthers, warnte der Elsässer Franziskaner Thomas Murner eindringlich vor der Aufwiegelung von „Hans Karst und der ungelehrten und aufrührerischen Gemeinde“ durch die Reformation. In der Folge sollte er zur Zielscheibe einer über das neue Medium der Flugschrift betriebenen Schmähkampagne werden. Eines der gegen den Kleriker gerichteten Pamphlete wurde in Dialogform verfasst und trägt den schlichten Titel Karsthans (1521) (Kat. Nr. 50).

Der anonyme Autor griff damit den alemannischen Begriff des „Hans Karst“ auf, den Murner zuvor im ursprünglichen Sinne als Bezeichnung für einen Bauerntölpel verwendet hatte, und deutete ihn geschickt um: Der gleichnamige Protagonist im Karsthans-Dialog, ein selbstbewusster Dorfvogt, verkörpert nun den Prototyp des bibelfesten, lutherisch gesinnten „gemeinen Mannes“, der mit dem „Bauernklotz“ von Murner nichts gemein hat. Vielmehr erscheint der ungelehrte Laie dem Theologen in jeglicher Hinsicht überlegen. – Kein Wunder, denn der „Mur-Narr“ habe schließlich „mehr auf der Narrenwiese gevögelt als in der Heiligen Schrift studiert“ (Karsthans: cc r). Mit seiner Überheblichkeit, der vulgären Ausdrucksweise und seinem lasterhaften Lebenswandel erfüllt er fast jedes antiklerikale Klischee und verkörpert den reformatorischen Topos des „verbildeten Theologen“. Immerhin hatte Luther selbst die geistliche Elite als die „Verkehrten“ diffamiert. Durch die Darstellung Murners als katzenköpfiges Mischwesen als Verballhornung seines Namens („murner“ = frühneuhochdeutsch für Kater) werden die ihm zugeschriebenen negativen Eigenschaften zusätzlich visualisiert. Der „Murmau“ sei „eine böse Katz’, die vorne leckt und hinten kratzt“ (Karsthans: dd 3v).

Mit insgesamt 10 Auflagen wurde Karsthans zum „Beststeller“. Neben der Abrechnung mit Murner werden auch zentrale theologische Kontroversen behandelt. Die dialogische Struktur des Textes erlangte rasch Vorbildcharakter und begründete ein neues literarisches Genre: die sogenannten Reformationsdialoge, in denen ein einfacher Laie über einen Kirchenmann triumphiert (Kat. Nr. 51). Diese Konstellation, in der das hierarchische Bildungsgefälle auf invektive Weise umgekehrt und der „falsche Geistliche“ durch den „gemeinen Mann“ demaskiert wird, war nicht zuletzt Ausdruck reformatorischer Gelehrtenkritik. Auch die flegelschwingende Figur des Karsthans lebte in Folgepublikationen weiter – etwa im ebenfalls anonym veröffentlichten Gesprächbüchlein Neukarsthans (1521) (Kat. Nr. 52), das unter anderen dem Straßburger Reformator Martin Bucer zugeschrieben wurde (Bräuer 1993: 104 ff.). Obwohl der schlaue Bauer zum Symbol der geistigen Mündigkeit des „gemeinen Mannes“ erhoben wurde, ist er keineswegs identisch mit dem realen Standesbauern, sondern blieb ein literarisches Konstrukt, das dem Ideal der Priesterschaft aller Gläubigen ein markantes Gesicht verlieh.

Doch vermochte Murner die Kunstfigur Karsthans ein weiteres Mal invektiv umzudeuten: In seinem monumentalen Schmähgedicht Von dem großen lutherischen Narren (1522) (Kat. Nr. 53) tritt er als katzenköpfiger Gegenreformator auf, während die Bauernfigur dem beschworenen Narrenungetüm, das die Reformation symbolisiert, buchstäblich aus dem Hintern gekrochen kommt. Ironisch spöttelnd dichtet Murner:

„Jch halt vil druff bei meinem eid
Darumb ists mir von hertzen leid
Das ich in [Karsthans] in dem hindern fant
Er solt hon ein eerlichern stant
Dan dem narren in dem magen
Das er nit leicht mocht in veriagen
Vnd hinden vsz der massen tragen
Pfuch der grosen schand vff erden
Das karsthansz sol geschissen werden“ (Murner 1522: R iii r)

Literatur

Rudolf Bentzinger (Hg.): Die Wahrheit muß ans Licht! Dialoge aus der Zeit der Reformation, Leipzig 1983.

Siegfried Bräuer: Martin Bucer und der Neukarsthans, in: Christian Krieger, Marc Lienhard (Hgg.): Martin Bucer and Sixteenth Century Europe. Actes du Colloque de Strasbourg (28–31 Août 1991), Leiden 1993, S. 103–128.

Albrecht Dröse: Anfänge der Reformation, in: Werner Röcke, Marina Münkler (Hgg.): Die Literatur im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, München/Wien 2004, S. 198–242.

Ninna Jørgensen: Bauer, Narr und Paffe. Prototypische Figuren und ihre Funktion in der Re-formationsliteratur, Leiden [u.a.] 1988. 

Jürgen Kampe: Problem „Reformationsdialog“. Untersuchungen zu einer Gattung im reformatorischen Medienwettstreit, Tübingen 1997.

Barbara Könneker: Der Karsthans, in: Dies.: Die deutsche Literatur der Reformationszeit. Kommentar zu einer Epoche, München 1975, S. 10–108.

Horst Langer: „Karsthans“. Wirkungsstrategie, Werkgestalt und Rezeption eines Reformationsdialogs, in: Zeitschrift für Germanistik 1 (1991), S. 28–36.

Thomas Neukirchen (Hg.): Karsthans. Thomas Murners „Hans Karst“ und seine Wirkung in sechs Texten der Reformationszeit, Heidelberg 2011.