Michelangelo Buonarroti und seine allzu fleischliche Antikenlust
Giuseppe Peterlini: Kat. Nr. 21–24
Michelangelo Buonarotti ist der wohl berühmteste Künstler der Renaissance. Seine Begeisterung für die Bildhauerei der Antike war schier grenzenlos. Für seinen virtuosen Umgang mit antiken Vorbildern wurde er von zeitgenössischen Biografen wie Giorgio Vasari gefeiert. Doch konnte die übermäßige Antikenverehrung auch zum Gegenstand spöttischer Provokation werden. Das zeigt sich etwa im Falle eines Kupferstichs von Giulio Bonasone (Kat. Nr. 21), der eine erotische Szene mit Apoll und Daphne darstellt, die erst mittels nachträglich hinzugefügter Verse identifizierbar ist (Schlieker 2001: 94–95). Doch weichen Text und Darstellung auf parodistische Weise insofern von der Originalerzählung in Ovids Metamorphosen ab (Kat. Nr. 22), als in dem Blatt Bonasones die Nymphe den Sonnengott verführt, anstatt sich in einen Lorbeerbaum zu verwandeln, um sich den Zudringlichkeiten Apolls zu entziehen (Kat. Florenz 2005: 190, Kat. Nr. 66).
Und die Daphne im Kupferstich hält noch eine weitere Überraschung bereit, bezieht sie sich doch erkennbar auf Michelangelos Nacht aus der florentinischen Sagrestia Nuova in San Lorenzo (Kat. Nr. 23). Es handelt sich bei ihr um eine sehr bekannte Allegorie, die eine breite Rezeption erfahren hatte (Kat. Dresden 2018). Bonasone imitiert die liegende Körperhaltung der Figur auf dem Sarkophag des Medici-Grabmals, aber seine Nymphe liegt auf einem Bett – sogar ihr Kissen wurde den architektonischen Voluten des Vorbildes nachempfunden. Derartige Elemente bilden die „Erkennungsmerkmale“ der Bildparodie, bei der es sich um eine Art der Nachahmung handelt, die das imitierte Vorbild ins Lächerliche zieht (Ebert 2017: 195). Als parodistischer Mechanismus fungiert im Kupferstich nicht die komische Vorlagenverzerrung, wie etwa bei der Karikatur oder der Stilparodie, sondern die unerwartete Verwandlung des Vorbildes, seine Übertragung in einen unangemessen niederen Kontext (Tauber 2009: 60; Müller 2015: 155). Hieraus resultiert eine als lächerlich empfundene Diskrepanz zwischen Imitiertem und Imitation, die die Bildparodie im Blatt deutlich macht (Rose 1993: 33). Bonasone parodiert Michelangelos Nacht, indem er aus einer Allegorie eine unkeusche Nymphe macht, die im Begriff ist, den Apoll von Belvedere (Kat. Nr. 24), eine kanonische Skulptur der römischen Antike, ins Bett zu ziehen.
Aufgrund der in der Frühen Neuzeit üblichen Verknüpfung von Autor und Werk lässt sich die sexualisierte Motivübernahme auf Michelangelos Antikenverehrung beziehen. Der Topos von der menschlichen Begierde nach Kunstwerken wird dabei auf spöttische Weise mit fleischlichen Gelüsten gleichgesetzt. Diese Form des Spottens ist Teil jenes spielerischen Charakters der Bildparodie, derer sich Bonasone in seiner erotischen Kupferstichserie bedient: Lächerliche Nachahmungen berühmter Kunstwerke sollten den Reiz der lasziven Serie erhöhen und insbesondere gelehrte Kunstkenner ansprechen. Sie konnten aber auch als invektive Provokation und Schmähung des künstlerischen Genies Michelangelos wahrgenommen werden.
Auf ähnliche Weise wie Bonasone verspottet auch die Faschingsschrift La statua della Foia ovvero di Santa Nafissa den Renaissancemeister, die der Humanist Annibale Caro zwischen 1536 und 1538 verfasst hat (Kat. Florenz 1987: 107). In seiner fiktiven Geschichte erzählt Caro von einer antiken, hermaphroditischen Statuette des Gottes Priapus. Caro berichtet scherzhaft: „Michelangelo wollte sie nachzeichnen, um sie als Vorbild für sein Jüngstes Gericht zu verwenden. Ich wollte es aber nicht.“ (Caro 1863: 184 [Übersetzung GP]) Der Gelehrte inszeniert Michelangelos Antikenverehrung damit als maßlos, unterstellt er doch dem Künstler, dass dieser sogar eine laszive Statuette als Vorbild für die Heiligenfiguren seines Altarsfreskos in der Sixtinischen Kapelle des Vatikans in Betracht ziehen würde. So machen sich Caro und Bonasone literarisch und bildlich über Michelangelos Leidenschaft für die Antike lustig. Caro übertreibt dabei Michelangelos Antikenverehrung und verknüpft sie mit dem Vorwurf mangelnder Urteilsfähigkeit, während Bonasone sie parodistisch mit fleischlicher Lust gleichsetzt.
Literatur
Claudia Kryza-Gersch, Stephan Koja (Hgg.): Schatten der Zeit. Giambologna, Michelangelo und die Medici-Kapelle (Ausst.-Kat. Dresden, Skulpturensammlung), München 2018.
Giovanni Agosti, Vincenzo Farinella (Hgg.): Michelangelo e l’arte classica (Ausst.-Kat. Florenz, Casa Buonarroti), Florenz 1987.
Ornella Casazza, Riccardo Gennaioli (Hgg.): Mythologica et Erotica (Ausst.-Kat. Florenz, Palazzo Pitti), Livorno 2005.
Anja Ebert: Eine Parodie der Melancholie? Zu einem Kupferstich des Joos van Winghe und den Bezügen zu Dürers Melencolia I, in: Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums 2015, Nürnberg 2017, S. 187–198.
Jürgen Müller: Der sokratische Künstler. Studien zu Rembrandts Nachtwache, Leiden u. a. 2015.
Margaret A. Rose: Parody: Ancient, Modern, and Post-Modern, Cambridge 1993.
Lieselotte Schlieker: Humoristische Erotik in der italienischen Graphik des 16. Jahrhunderts. Die Götterliebschaften von Gian Jacopo Caraglio und Giulio Bonasone, Dissertation, Kiel 2001.
Christine Tauber: Manierismus und Herrschaftspraxis. Die Kunst der Politik und die Kunstpolitik am Hof von François I, Berlin 2009.