Kunst & Provokation
Tabubruch und Skandal sind als invektives Spiel fester Bestandteil moderner und zeitgenössischer Kunst. Wo Kunst kritisch und korrigierend, ja aufklärerisch in die Gesellschaft eingreifen und auf Missstände aufmerksam machen will, sind Tabubruch und Skandal besonders geeignet, Aufmerksamkeit zu erregen, zu provozieren und Gegenreaktionen auszulösen. Häufiger Gegenstand von Tabubrüchen sind Religionen, da sie ihrerseits starke Tabus setzen. Daraus ziehen Grenzverletzungen gegen einzelne Glaubensgemeinschaften ihre invektive Wirkung: Sie verletzen, was als unverletzlich ausgewiesen ist. Das wirft die Frage nach der besonderen Schutzwürdigkeit von Themen, Gruppen und Personen, umgekehrt aber auch die Frage nach dem Status von Kunst und den Grenzen der Kunstfreiheit auf.
Doch auch die Kunst selbst kann zur Zielscheibe solcher Invektiven werden. Etwa dann, wenn Überschreibungen und Neuinterpretationen kanonischer Werke die Regeln des „guten Geschmacks“ verletzen oder wenn ein Antitheater die Kunst eines bürgerlichen Establishments herabsetzt. Im Fall von Kunstwerken, die als wesentlicher Bestandteil kultureller Identität angesehen werden, richten sich Angriffe gegen sie auch immer gegen die mit ihnen verknüpften Machtverhältnisse. Dies war in der Frühen Neuzeit nicht wesentlich anders, als Bildparodien die Dominanz antiker Kunstwerke oder die Übermacht eines als „Ausnahmetalent“ markierten Künstlers wie Michelangelo brechen sollten.